Hamburger Frauenbiografien

Frauenbios

Anna Weinstein

( Anna Weinstein, geb. Neufeld )
(3.5.1881 Harburg – deportiert nach Lodz am 25.10.1941, Todesdatum unbekannt)
Opfer des Nationalsozialismus
Schloßmühlendamm 16 (Wohnadresse)
Stolperstein vor dem Wohnhaus Schloßmühlendamm 16 (Harburg, Harburg)
Anna-Weinstein-Weg, Neugraben-Fischbek, seit 2020
Anna Neufeld war die älteste Tochter des jüdischen Kaufmanns und Geld- und Immobilienmaklers Max Neufeld (4.9.1851–24.9.1925) und seiner Frau Jenny, geb. Pintus (4.9.1859–28.12.1940). Wie ihre beiden jüngeren Brüder Paul (geb. 14.6.1885) und Erich (geb. 11.10. 1891) und ihre drei Schwestern Gertrud (geb. 29.3.1883), Käthchen (geb. 10.6.1887) und Hedwig (geb. 19.9.1890) verbrachte sie ihre Kindheit in Harburg, wo ihr Vater das Haus in der Mühlenstraße 18 (heute: Schlossmühlendamm 16) besaß und mehrere Jahre lang als Erster Vorsteher der jüdischen Gemeinde diente.
Ihr Bruder Erich kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland und kam als Unteroffizier an der französischen Kanalküste bei Carvin am 11. Mai 1915 im Alter von 24 Jahren ums Leben. Sein Name ist auf dem Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten Harburgs verewigt, das 1921 auf dem Jüdischen Friedhof der Stadt errichtet wurde. An seinen Soldatentod erinnert auch ein Hinweis auf dem Grabstein seines Vaters, der hier vier Jahre später bestattet wurde.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Anna Neufeld ihren Wohnsitz von Harburg nach Jever in Ostfriesland verlegt, wo sie Joshua Weinstein, einen jüdischen Getreidegroßhändler geheiratet hatte, der sich auch als Vertreter von Mühlenfabrikaten betätigte. Das junge Ehepaar wohnte in der Bahnhofstraße 39 und freute sich am 2. August 1907 über die Geburt ihrer Tochter Liselott. Der Tod Joshua Weinsteins am 8. November 1926 dürfte für die Familie nicht nur ein großer menschlicher Verlust, sondern auch ein schwerer geschäftlicher Schicksalsschlag gewesen sein. Anna Weinstein reagierte auf die neue Situation, indem sie sich von der Getreidegroßhandelsgesellschaft trennte und sich voll und ganz auf die Weiterführung der Vertretung für Mühlenfabrikate konzentrierte, wobei sie zunehmend von ihrer Tochter unterstützt wurde. Diese Tätigkeit war offenbar so einträglich, dass sie ihren bisherigen anspruchsvollen Lebensstil im Großen und Ganzen beibehalten konnte.
Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler dauerte es nicht lange, bis sich für Anna Weinstein die Grundvoraussetzungen für diese Lebensführung schlagartig änderten. Viele Kunden wandten sich neuen Geschäftspartnern zu, sodass ihre Umsätze dramatisch einbrachen. Am 3. Juni 1936 stellte die Holsatia Mühlen GmbH aus Kiel, der wichtigste Kooperationspartner Anna Weinsteins, die Zusammenarbeit mit ihr ein, weil die politischen Rahmenbedingungen sich geändert hätten. Die Entwicklung, "im Reichsernährungsstand nur arische Firmen arbeiten zu lassen, [sei] nicht aufzuhalten." Als Abfindung wurde Anna Weinstein bis auf Weiteres die monatliche Zahlung eines Betrags von 150 RM zugesichert.
Während der Pogromtage im November 1938 wurde Anna Weinstein kurzfristig verhaftet und von der Gestapo intensiv verhört, die bei einer anschließenden Hausdurchsuchung einen Teil ihres Schmucks konfiszierte und eine größere Menge Bargeld beschlagnahmte.
Als der jüdischen Bevölkerung Deutschlands nach den Ereignissen vom 9. und 10. November 1938 als "Sühneleistung" für die entstandenen Schäden die Zahlung einer Summe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt wurde, zu der alle vermögenden Juden anteilsmäßig beizutragen hatten, war auch Anna Weinstein davon betroffen. Um die Summe zu begleichen, musste sie ihr Haus in Jever zu sehr ungünstigen Bedingungen verkaufen. Der Rest ihres Vermö¬gens unterlag einer "Sicherungsanordnung", d. h. dass die Kontoinhaberin, abgesehen von einem monatlichen Freibetrag von 150 RM für ihre Lebenshaltung, nur mit Genehmigung des zuständigen Oberfinanzpräsidenten darüber verfügen durfte.
Als ihre Tochter im Mai 1939 ihre Heimatstadt verließ und nach England auswanderte, blieb Anna Weinstein mit 58 Jahren allein in Jever zurück. Unter diesen Umständen gab es für sie eigentlich keinen besonderen Grund, in Ostfriesland zu verbleiben. Ein Jahr bevor ihre hochbetagte Mutter starb, kehrte sie im Sommer 1939 in ihr Elternhaus in der Mühlenstraße 18 in Harburg zurück. Die "Heimkehrerin" wurde Mitglied der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Nordwestdeutschland, der inzwischen alle Jüdinnen und Juden an-gehören mussten. Ihr jährlicher Beitrag belief sich auf 12 RM.
Am 25. Oktober 1941 war Anna Weinstein unter den ersten Hamburger Jüdinnen und Ju¬den, die in den Osten deportiert wurden. Vorher hatte sie, wie vorgeschrieben, ihren Wohnungsschlüssel bei der nächsten Polizeidienststelle in Harburg abgegeben. Ihr Grundstück und ihr Haus in der Mühlenstraße 18 verfielen nach der "Evakuierung" dem Deutschen Reich. Anna Weinsteins große 5-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage des Hauses bezog bald danach ein Harburger Mittelschullehrer mit seiner Familie, während die enteignete Besitzerin im Getto Łódź in der Hohensteiner Straße 51 in einer primitiven Unterkunft auf engstem Raum mit mehreren anderen, ihr völlig fremden Menschen, zurechtkommen musste. Alle Zimmer waren ungeheizt, die Behausungen ohne fließend Wasser. Überall wimmelte es vor Wanzen.
Nur vier Menschen dieses ersten Hamburger Deportationstransports überlebten die Shoa. Anna Weinstein gehörte nicht zu ihnen. Die näheren Umstände ihres Todes sind unbekannt. Am 22. August 1952 wurde sie vom Harburger Amtsgericht auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärt. Zu den Opfern der Shoa zählen auch ihre Schwestern Hedwig Mamsohn, geb. Neufeld, und Käthchen Hirschfeld, geb. Neufeld, mit ihrem Mann Isidor Hirschfeld.
Stand: Juni 2020
Text: Klaus Möller, aus: www.stolpersteine-hamburg.de
Quellen:
Staatsarchiv Hamburg, 522-1, Jüdische Gemeinden, 992b, Kultussteuerkarte der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg.
Staatsarchiv Hamburg, 314-15, Akten des Oberfinanzpräsidenten, 2 (R 1940/447).
Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch, Veröffentlichung aus dem Staatsarchiv Hamburg, Bd. XV, bearbeitet von Jürgen Sielemann unter Mitarbeit von Paul Flamme, Hamburg 1995.
Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, 4 Bände, Bundesarchiv Koblenz (Hrsg.), S. 781, Koblenz 2006.
Yad Vashem, The Central Database of Shoa Victims´ Names: www. yadvashem.org.
Staatsarchiv Hamburg: StaH 351-11, AfW, Abl. 2008/1, 020807 Spitzer, Liselott.
Bezirksamt Harburg [Hrsg.]: Harburger Opfer des Nationalsozialismus, Hamburg. Recherche: Matthias Heyl und Margit Maronde-Heyl. Hamburg 2002.
Mathias Heyl: Vielleicht steht die Synagoge noch. Jüdisches Leben in Harburg 1933–1945. Norderstedt 2009.
Recherche: Matthias Heyl und Margit Maronde-Heyl. Hamburg 2002.
Mathias Heyl: Vielleicht steht die Synagoge noch. Jüdisches Leben in Harburg 1933–1945. Norderstedt 2009.
Eberhard Kändler, Gil Hüttenmeister: Der jüdische Friedhof Harburg. Hamburg 2004, S. 200.
Hartmut Peters: Verbannte Bürger. Die Juden aus Jever. Dokumente und Darstellung zur Geschichte der Juden Jevers 1698-1984. Jever 1984.
Email Holger Frerichs v. 14.6.2020.
 

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