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Ingrid Reuß

(22.11.1924 Hamburg -14.12.2006)
Einzige Quartiersfrau in der Hamburger Speicherstadt
Holländischer Brook 3 (Firma Carl Wolter; Wirkungsstätte)
Bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756, Grab: E 14-429
Ingrid Reuß; Foto: Jutta Dalladas-Djemai
Nachdem in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts das Wohnviertel auf der Kehrwieder-Wandrahm-Insel abgerissen und ca. 20.000 Menschen in andere Stadtteile umgesiedelt worden waren, wurden zwischen 1885 und 1888 Speicher im neugotischen Stil mit Türmchen, Friesen und Keramikschmuck erbaut. Seit 1991 stehen sie unter Denkmalschutz. Ihre Forderfronten gehen zur Straße hin, von wo aus man in sie hineingelangt; ihre Rückseiten liegen zu den Fleeten, auf denen früher Schuten fuhren, die Waren für die in den Speichern tätigen Firmen transportierten, die von der Wasserseite aus aus den Schuten in die Speicher gehievt wurden.
In diesen Speichern hatten die Quartiersmannfirmen noch bis Ende des 20. Jahrhunderts ihre Firmensitze. Bis zu dieser Zeit umwehten am Holländischen Brook die Spaziergängerin und den Spaziergänger die Düfte der verschiedensten Waren, die in den Speichern lagerten. Mandeln, Nüsse, Trockenobst. Die Quartiersmänner waren für die fachgerechte Lagerung dieser Waren zuständig, denn sie waren die Treuhänder und Warenprüfer der Kaufleute Seit 1976 heißt dieser Beruf Seegüterkontrolleur. Diese sind moderne Hafenlogistiker, die mit Hilfe von Maschinen eine große Bandbreite an Dienstleistungen durchführen. Das Aufgabenziel dieses Berufes ist gleich geblieben: fachgerechtes Lagern von Gütern Dritter. Ingrid Reuß lernte diesen Beruf von der Pike auf, obgleich ihr als Frau keine reguläre Lehre zugestanden wurde. Mit ihrem Bruder Ingo leitete sie mehrere Jahrzehnte die am Holländischen Brook 3 gelegene Quartiersmann-Firma ihres Vaters Carl Wolter. 1943, als 19-Jährige, trat Ingrid Reuß als Quartiers “Mann“ in die Firma ihres Vaters (gegründet 1842) ein. Dort verbrachte sie die meiste Zeit ihres Lebens, ihr stets zur Seite ein kleiner Rauhaardackel als treuer Begleiter. Als kleines Mädchen waren für Ingrid Reuß die Speicher besonders faszinierend gewesen, wenn diese zur „Tierpension“ avancierten. Manchmal wurden Hasen einquartiert. Aber auch Rassehunde, bestimmt für den damaligen türkischen Staatspräsidenten Kemal Atatürk, erhielten 1935 ein Zwischen-Domizil im Speicher der Firma Wolter. Weniger putzige Tierchen waren für medizinische Zwecke bestimmte, in Kanistern untergebrachte Blutegel, die nach Südamerika verschifft werden sollten. Sie machten seltsame schmatzende Geräusche und mussten immer wieder mit Wasser versorgt werden. Durch all diese und andere Erlebnisse reifte in Ingrid Reuß der Wunsch, diesen bis vor noch nicht allzu langer Zeit nur Männern zugänglichen Beruf zu ergreifen. Nur der Zweite Weltkrieg ermöglichte ihr den Einbruch in diese Männerdomäne, weil die Männer im Hafen fehlten, erlaubte ihr der Vater die Erfüllung ihres Berufswunsches. Und so erlernte Ingrid Reuß als einzige Frau in der Speicherstadt den Beruf des Quartiersmannes, allerdings nicht mittels einer regulär anerkannten Lehre mit Abschluss. Es handelte sich um einen so genannten Männerberuf, in dem nicht nur Muskeln gefragt sind, sondern auch feine Nasen, mit denen die in den Speichern gelagerten Waren auf ihre Frische und ihre sachgerechte Lagerung überprüft werden. So darf die Ware niemals einen Fremdgeruch aufweisen, was leicht passieren kann, wenn z. B. Mandeln neben Tischtennisbällen lagern.
Quartiersleute prüfen immer wieder neu die ihnen von den Kaufleuten anvertrauten Waren vom Tag der Einlagerung bis zum Tag der Auslagerung. Bis zu einem Jahr und länger müssen die Produkte manchmal in den Speichern unbeschadet überstehen.
Im Speicher der Firma Wolter am Holländischen Brook lagerten grüner Pfeffer in Salzlake und ebenfalls in Salzlake schwammen Kapern. Für die Margarineindustrie wurde Mandelöl in Eisenfässern und für die Kosmetikindustrie wurden übelriechende Baumsäfte verwahrt. Träume von orientalischen Basaren vermittelte die breite Palette von Trockenfrüchten, Mandel- und Nusskernen, Pistazien in der Steinschale, Pistazienkerne mit und ohne Haut und Orientteppichen aus Persien. Daneben gab es ein großes Sortiment für den Schiffsausrüsterbedarf: Elektroartikel, Textilien. Und last but not least fanden auch Tierhaare und Wolle in den Speichern ihren Lagerplatz. Manche Produkte mussten noch zusätzlich bearbeitet werden - wie z. B. Mandeln und Pistazien. Hier erwies sich der Etagenspeicher als segensreiche Einrichtung. So kullerten aus den oberen Etagen, wo sich die Trockenböden befanden, getrocknete Mandeln und Pistazien durch eine Rohrleitung in tiefer gelegene Böden, wo sie weiter bearbeitet bzw. gelagert wurden. Dies ging alles ganz ohne Eletrizität vor sich, denn elektrische Förderbänder wurden in Etagenspeichern im Gegensatz zu den modernen ebenerdigen Speicher-Hallen, nicht benötigt.
Ingrid Reuß; Foto: Jutta Dalladas-Djemai
Ingrid Reuß hielt nicht viel von den modernen Lagerhallen und war stolz auf die alten roten Backsteinspeicher. Deshalb sagte sie auch 1988 dem Senat und der HHLA den Kampf an, als in den 80-er Jahren die Nachricht aufkam, die Speicherstadt solle verkauft und die Speicher sollten umfunktioniert werden zu Wohnungen, Restaurants, Hotels und Boutiquen. Der ehemalige Hafendirektor Dr. Karl-Ludwig Mönkemeier verpasste ihr den Spitznamen „Jeanne d ‘Arc der Speicherstadt“. Und wie einst Jeanne d’ Arc hielt auch Ingrid Reuß symbolisch die Fahne unbeirrt hoch und war Tag und Nacht für ihre Speicherstadt im Einsatz.
1999 ging Ingrid Reuß in den Ruhestand und Peter, der Sohn ihres Bruders Ingo, wurde Geschäftsführer der Firma Carl Wolter. 2001 zog die Firma aus der Speicherstadt auf die Spreehafeninsel und 2010 an den Windhukkai im Indiahafen. Viele Quartiersmannsfirmen waren inzwischen aus den roten Backsteinbauten weggezogen, hatten ihr Gewerbe aufgegeben oder ebenerdige Läger weit hinten im Hafen oder außerhalb gemietet. Neue hafenferne Firmen, wie z. B. Consultingunternehmen, Anbieter von Soft- und Hardwareprodukten, Firmen, die mit neuen Medien ihr Geld machen, sind in die Speicherstadt gezogen, deren Fassaden zwar denkmalgeschützt sind, deren Innenleben jedoch den Bedürfnissen der neuen Mieter angepasst wird.
Text: Rita Bake
 

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