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Otto Sill

(10.9.1906 Calw – 1.3.1984 Hamburg)
Ingenieur, Verkehrs- und Stadtplaner, Oberbaudirektor
Eppendorfer Landstraße (Wohnadresse Hausnummer unleserlich, 1943)
Otto-Sill-Brücke (1988 benannt in Hamburg-Altstadt)
Fuhlsbüttler Straße 756, bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Prominentenliste, Grab: Q 6, 7-8

Otto Sill wurde 1906 als Sohn eines Kaufmanns im württembergischen Calw geboren.[1] Von 1913 bis 1915 besuchte er die Volksschule im hessischen Walldorf, von 1915 bis 1922 die Realschule in Groß-Gerau. Von Oktober 1922 bis Mai 1924 arbeitete er als Praktikant bei der Maschinenfabrik Moenus AG in Frankfurt am Main und bereitete sich in Abendkursen auf das Abitur vor, das er im September 1924 bestand. In den Jahren 1924 bis 1931 studierte er an der Technischen Hochschule Darmstadt Bauingenieurwesen und erlangte den Titel eines Diplom-Ingenieurs. Seit 1931 bis zum Mai 1934 arbeitete Sill als Regierungsbauführer im hessischen Staatsdienst u.a. an Projekten des Brücken- und Autobahnbaus.[2] Laut eigenen Angaben gehörte Sill vor 1933 keiner politischen Partei an.[3]

Laut der NSDAP-Gaukartei trat Otto Sill zum 1. Mai 1933 mit der Mitgliedsnummer 2.175.180 in die NSDAP ein.[4] In seiner Entnazifizierung gab Sill zudem an, seit April 1935 Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), seit Dezember 1936 in der Deutschen Arbeitsfront (DAF), seit Januar 1938 im NS-Altherrenbund und seit April 1941 im Reichsbund der deutschen Beamten gewesen zu sein. Ämter habe er in keiner der Organisationen bekleidet.[5] Laut einer zeitgenössischen Quelle war Sill zudem seit dem 31. März 1934 im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK).[6]

Im Dezember 1934 bestand Otto Sill die Staatsprüfung für das Wasser- und Straßenbaufach und wurde im März 1935 vom Land Hessen zum Regierungsbaumeister ernannt.[7] Bereits zuvor hatte er sich bei der Obersten Bauleitung der Reichsautobahnen Halle (Saale) beworben und war vom September 1934 bis Februar 1936 von Erfurt aus mit Entwürfen und der Bauleitung für Autobahnbrücken beschäftigt. Im März 1936 wechselte er zur Obersten Straßenverwaltung nach Königsberg in Ostpreußen und leitete dort das Technische Büro.[8]

Von März 1938 bis Ende Dezember 1941 arbeitete er für das Technische Landesamt in Ludwigsburg – zunächst als Leiter einer Neubauabteilung für größere Straßen- und Flussbauarbeiten, seit April 1939 dann im Straßenbau im Protektorat Böhmen und Mähren (der vom Deutschen Reich besetzten Tschechoslowakei). Im November 1939 wurde er in die Hauptabteilung Bauwesen der Regierung des Generalgouvernements in Krakau abgeordnet, wo er sich am Aufbau der Zentrale beteiligte und das „Kraftfahrwesen“ organisierte.[9] Laut Einschätzung des Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen bewährte er sich dort „sehr gut“.[10]

Im Februar 1941 wurde Sill zum Baurat ernannt und erhielt die Aufgabe, die Einsatzgruppe II der Organisation Todt aufzubauen. Beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion war Sill Stabsleiter dieser Einsatzgruppe.[11] Im Mai 1941 stellte er einen Antrag auf Entlassung aus den Diensten des Technischen Landesamtes, den er damit begründete, dass die Arbeitsbedingungen vor allem 1939/40 „derart ungünstig“ gewesen seien, dass er sich bereits im März 1940 zum Ausscheiden entschlossen habe: „Ich war mir jedoch im klaren, daß während des Krieges von jedem mit Recht verlangt wird, daß die ihm zugewiesenen Aufgaben unbedingt erfüllt werden müssen“.[12] Welche Umstände es waren, die Sill als so „ungünstig“ empfand, bleibt in den in seinem Nachlass erhaltenen Dokumenten offen.

Zum 1. Januar 1942 wechselte Otto Sill – „auf eigenen Wunsch“, wie es im Zeugnis des Technischen Landesamtes Ludwigsburg hieß – nach Hamburg, wo er als Baurat in der Abteilung Stadtentwässerung des Tiefbauamts zu arbeiten begann.[13] Bis Mai 1943 war er als Abschnittsleiter für den Bau von Luftschutzbunkern zuständig, dafür war er vom Kriegsdienst befreit.[14] Am 10. Mai wurde er zum Wehrdienst einberufen, den er bei einer motorisierten Luftschutzabteilung der Luftwaffe leistete, u.a. im schwäbischen Gablingen.[15] Seit November 1944 hatte er den Dienstrang eines Unteroffiziers.[16] Gegen Kriegsende wurde er zu einer Fallschirmjäger-Division versetzt. Am 25. April 1945 geriet er – „nach kurzem Kampfeinsatz“, wie er in seinem Lebenslauf schreibt – in britische Kriegsgefangenschaft, in der er bis zum 16. September verblieb.[17]

Im September 1945 füllte Otto Sill einen Entnazifizierungsfragebogen aus, in dem er behauptete, seit Mai 1933 zunächst Parteianwärter und erst seit November 1937 „Pg.“ gewesen zu sein.[18] Im Oktober 1946 fand eine Vernehmung Sills statt. Im Mai 1949 wurde ihm bestätigt, „als entlastet in die Kategorie V eingestuft worden“ zu sein.[19] 1954 hatte Sill einen kurzen Briefwechsel mit seinem früheren Kompanieführer aus der Kriegszeit. Dabei sprach er die Hoffnung aus, dass dieser „die Wirren der letzten Kriegsmonate“ gut überstanden habe und lobte ihn dafür, „die technischen Fragen in Ihrer Kompanie in den Vordergrund“ gestellt zu haben.[20]

Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im September 1945 wurde Sill wieder in der Bauverwaltung beschäftigt – zunächst mit der Aufbauplanung hinsichtlich von Verkehrsanlagen. Von Ende 1947 bis November 1951 war er Leiter der Hauptabteilung Verkehrsanlagen, seit Juli 1949 als Oberbaurat.[21] Der Generalverkehrsplan für Hamburg von 1947, der zum Aufbauplan erweitert wurde, ging auf Sill zurück.[22] 1951/52 leitete er kommissarisch das Landesplanungsamt Hamburg. Von Dezember 1951 bis März 1964 war Sill Leiter des Tiefbauamtes, seit 1952 als Baudirektor und seit 1953 als Erster Baudirektor. 1956 wurde er von der Technischen Hochschule Braunschweig zum Honorarprofessor für Straßenverkehr und Straßenverkehrstechnik ernannt. 1964 wurde er zum Oberbaudirektor ernannt.[23] Aus Sicht des Architekturhistorikers Ralf Lange war Sills Ernennung Ausdruck der Durchsetzung der „Technokraten“ beim Hamburger Wiederaufbau und der Orientierung auf das Leitbild der „autogerechten Stadt“.[24] Priorität bekam beispielsweise nun der massive Bau von Parkflächen. Maßgeblich beteiligt war Sill auch am Bau neuer Straßenführungen und U- und S-Bahn-Linien, am Bau des Hauptklärwerks Köhlbrandhöft und der Erschließung neuer Wohn- und Gewerbeflächen. Im September 1971 wurde Sill pensioniert.[25]

 

Otto Sill war Mitglied in zahlreichen Gesellschaften und Vereinen, etwa dem Architekten- und Ingenieur-Verein Hamburg (seit 1946), der Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen (seit 1948, seit 1955 im Vorstand), der Deutschen Verkehrs-Wissenschaftlichen Gesellschaft (seit 1959) oder der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (seit 1949). 1968 wurde er vom Bundesverkehrsminister in dessen Wissenschaftlichen Beirat (Gruppe Ver-kehrstechnik) berufen.[26] Sill trat neben seiner Tätigkeit in der Hamburger Verwaltung auch mit wissenschaftlichen Vorträgen und zahlreichen Publikationen hervor.[27] In den 1960er Jahren galt er der FAZ als „Verkehrsfachmann“ mit einem „internationalen Ruf“.[28] 1976 nannte ihn das Hamburger Abendblatt den „Vater des Elbtunnels“.[29] 1984 starb Otto Sill. Vier Jahre später benannte die Stadt Hamburg eine neue Brücke am Baumwall nach dem früheren Oberbaudirektor und ehrte ihn zusätzlich mit einer Bronzetafel.[30]

Text: David Templin

Quellen:
1 Bei der folgenden biographischen Skizze handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer Kurzbiographie, die 2017 im Rahmen eines wissenschaftlichen Gutachtens für das Staatsarchiv Hamburg (StAHH) erstellt wurde. Das vollständige Gutachten ist einsehbar unter: https://www.hamburg.de/contentblob/13462796/1d4b36cbfb9adc7fca682e5662f5854d/data/abschlussbericht-ns-belastete-strassennamen.pdf (zuletzt aufgerufen am 14.4.2020).
2 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1. Vgl. Jürgen Gottschalk: Sill, Otto Adolf Ernst, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Band 2, Hamburg 2003, S. 395-396.
3 Fragebogen Military Government of Germany, ausgefüllt von Otto Sill, 21.9.1945, in: StAHH, 621-2/30, 1.
4 Bundesarchiv (BArch), R 9361-VII/IX KARTEI, Karteikarte „Sill, Otto“.
5 Fragebogen Military Government of Germany, ausgefüllt von Otto Sill, 21.9.1945, in: StAHH, 621-2/30, 1.
6 Haasemann (Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen) an Reichsministerium des Innern, 22.5.1940, in: BArch, R 43, 4572.
7 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1; Der Reichsstatthalter in Hessen, Ernennungsurkunde Regierungsbauführer Otto Sill zum Regierungsbaumeister, 26.3.1935, in: ebd.
8 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1.
9 Ebd.; Technisches Landesamt [Ludwigsburg], Dienstleistungszeugnis für Regierungsbaurat Sill, 29.11.1941, in: StAHH, 621-2/30, 1.
10 Haasemann (Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen) an Reichsministerium des Innern, 22.5.1940, in: BArch, R 43, 4572.
11 Technisches Landesamt [Ludwigsburg], Dienstleistungszeugnis für Regierungsbaurat Sill, 29.11.1941, in: StAHH, 621-2/30, 1. Zur Organisation Todt vgl. Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht 1938-1945, Koblenz 1987.
12 Baurat Sill (Krakau) an Technisches Landesamt Ludwigsburg/Württ., 8.5.1941, in: StAHH, 621-2/30, 1.
13 Technisches Landesamt [Ludwigsburg], Dienstleistungszeugnis für Regierungsbaurat Sill, 29.11.1941, in: StAHH, 621-2/30, 1. Vgl. zur Hamburger Stadtentwässerung in der NS-Zeit: David Templin: Wasser für die Volksgemeinschaft. Wasserwerke und Stadtentwässerung in Hamburg im „Dritten Reich“ (Forum Zeitgeschichte, 26), Hamburg/München 2016.
14 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1.
15 Dipl-Ing. Otto Sill, Erster Baudirektor, an Melchior Jansen (Köln), 10.11.1954, in: StAHH, 621-2/30, 6; Fragebogen Military Government of Germany, ausgefüllt von Otto Sill, 21.9.1945, in: StAHH, 621-2/30, 1.
16 Ebd.
17 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1. Aus dem Jahr 1945 sind mehrere Briefe Otto Sills überliefert, vgl. StAHH, 621-2/30, 2.
18 Fragebogen Military Government of Germany, ausgefüllt von Otto Sill, 21.9.1945, in: StAHH, 621-2/30, 1.
19 Beratungsausschuss II für Ausschaltung von Nationalsozialisten an Baurat Otto Sill, undatiert [Oktober 1946], in: StAHH, 621-2/30, 1; Der Staatskommissar der Hansestadt Hamburg für die Entnazifizierung/Kategorisierung, Fachausschuß IVa, Entlastungsschein für Otto Sill, 10.5.1949, in: ebd.
20 Dipl-Ing. Otto Sill, Erster Baudirektor, an Melchior Jansen (Köln), 10.11.1954, in: StAHH, 621-2/30, 6.
21 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1.
22 Ralf Lange: Vom Kontor zum Großraumbüro. Bürohäuser und Geschäftsviertel in Hamburg 1945-1970, Königstein im Taunus 1999, S. 115
23 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1.
24 Lange, Vom Kontor zum Großraumbüro, S. 120f.
25 Gottschalk, Sill; Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1; Dank an den Mann, der die Hansestadt mitaufgebaut hat, in: Hamburger Abendblatt, 9./10.10.1971, S. 4.
26 Lebenslauf Otto Sill, 1.2.1967, in: StAHH, 621-2/30, 1; Vietor/Beyn (Geschäftsführung NEUE HEIMAT) an Prof. Otto Sill, Oberbaudirektor Baubehörde, 8.2.1968, in: ebd. Vgl. die Liste an Mitgliedschaften in seinem Nachlass: Vermerk „Funktionen von OD“, 18.5.1971, in: StAHH, 621-2/30, 1.
27 Vgl. Otto Sill (Hg.): Parkbauten. Handbuch für Planung, Bau und Betrieb von Park- und Garagenbauten, Wiesbaden/Berlin 1968 (2. Auflage); ders./Paul Seitz: Stadtstruktur und Verkehr. Forschungsarbeit der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Hamburg 1966; Otto Sill: Die Parkraumnot. Umfang des ruhenden Kraftwagenverkehrs und Bedarf an Stellraum in Städten (Schriften zum Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen, 7), Berlin/Bielefeld/München 1951.
28 Professor Sill als Nachfolger ernannt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.8.1963, S. 6, in: StAHH, 621-2/30, 15. Vgl. die weiteren Presseartikel über Sill ebd.
29 Vater des Elbtunnels feiert 70. Geburtstag, in: Hamburger Abendblatt, 9.9.1976, S. 3.
30 Zwei Plätze der Erinnerung, in: Hamburger Abendblatt, 26.10.1988, S. 9.
 

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Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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