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Johannes Heins Konservenfabrik

Brüderstraße 8 (heute Warnstedtstraße )
Firmenlager für Zwangsarbeiterinnen
Brüderstraße 8 (heute Warnstedtstraße )
„Polinnenlager“
Lager für etwa 100 polnische Zwangsarbeiterinnen. Das Lager bestand im April 1943

Fabrikant Johannes Heins

(22. April 1902 Hamburg – 16. Oktober 1986 Brunsbüttel)

Mitglied: der NSDAP seit 1932, seit 1935 Deutsche Arbeitsfront (DAF). Er wurde von der Entnazifizierungskommission 1946 trotz alter Parteizugehörigkeit, in Gruppe IV einkategorisiert und konnte in seiner Stellung bleiben. Begründet wurde dies, dass er nicht aktiv gewesen sei und aufgrund von Entlastungs-Schriftstücken – er soll am 6. Oktober 1943 von der Gestapo für 10 Tage wegen Begünstigung ausländischer Arbeiter verhaftet worden sein und seitdem unter Aufsicht gestanden haben.

In einem Interview 2002 berichten als Zeitzeugen Nikolai Gurin, geb. 1932, und Jurij Gurin, geb. 1936, über die Situation der Ankunft in Hamburg und der Zeit im Lager, wo sie während der Arbeit ihrer Mutter sich selbst überlassenen waren. Die Brüder waren 1943 im Alter von 7 bzw. 11 Jahren zusammen mit ihrer Mutter aus Oredezh bei Leningrad verschleppt worden und hatten in ihrer Heimat schon sehr unter der Verfolgung im Krieg gelitten. Im Viehwagon transportiert, wurde ihre Mutter auf dem Weg zur Reparatur der Gleise eingesetzt, die von Partisanen zerstört worden waren. In Neuengamme vor dem KZ wurden die Angekommenen von Fabrikvertretern für Hamburger Betriebe ausgesucht.

Jurij erinnert: „Das war schon in der Baracke in der Fischfabrik. Also. Hier hatten wir... einen Appel, danach gingen alle Erwachsenen zur Arbeit, einschließlich 11 bis 12 Jahre alte Kinder. Ungefähr 12 Jahre alt. Also. Ich war deutlich jünger, der jüngere Bruder auch. Deswegen blieben wir immer in der Baracke. Dort war eine Aufseherin. Sie lief mit einer Peitsche herum. Wenn... ich wurde nicht so oft bestraft, aber manchmal bestrafte sie mich, deswegen hatte ich vor ihr Angst. Man beauftragte uns mit irgendwelchen Aufgaben, in der Baracke aufräumen oder sonst noch was, Geschirr abspülen vielleicht. Etwas mussten wir machen. Wenn wir die Aufgabe nicht gemacht hätten, dann hätte man uns bestraft. Deswegen versuchten wir alles auszuführen, und danach sich irgendwo zu verkriechen und warten, bis die Erwachsenen wieder von der Arbeit zurück waren. Die Ernährung war schwach, natürlich, das verstehen Sie doch selbst, was das für Zeiten waren: wir waren im Lager, was hätten wir erwarten können? All das... hm... Steckrüben, Rote Beete, wie gesagt, bald hatten wir es alles satt. Irgendeine Suppe. Das Brot hatte ich noch in Erinnerung, dass es... stachlig war, dass man es kaum in den Mund nehmen konnte. Anscheinend waren es irgendwelche Zusätze... für dieses Brot. Besonders genießbar war es nicht.

 

(Nikolaj) Also, ich werde erzählen, wie das Leben im Lager aussah. Man brachte uns ins Lager, das waren einige Familien. Ich weiß nicht, vielleicht waren es 10, vielleicht waren es 20 Familien, ich habe nicht gezählt und habe jetzt keine Vorstellung mehr davon. Ich will nur eine ungefähre Zahl nennen, dass es ca. 100 Menschen waren. Es waren große Familien, fast alle kinderreich. Wir waren vier. Aus Russland die Familie Antoninkow – vier Personen. Aus der Ukraine waren dann noch vier. Es waren alles Familien mit Kindern unseres Alters. Man brachte uns in den Baracken mit drei... dreistöckigen Pritschen unter. Mir wurde die oberste Etage zugeteilt, die 3. Etage auf der Pritsche. Und dann... zum Schlafen. Aufstehen... hm... man führte mit uns vorher ein Gespräch. Vor uns hielt die Aufseherin Frau Elsa die Rede. Ich erinnere mich an sie: so eine energische Frau, machthaberisch, mit einer Peitsche lief sie die ganze Zeit umher. Bedrohend, oder so etwas, wenn man etwas nicht ausführte – eine aus der Gestapo. Sie war es selbst, sie wurde hierher geschickt. Sie war eine aus Gestapo, wurde dort aufgezogen, wie man es nennt, mit Hass, oder so was, zu den Russen und anderen Nationalitäten. Weil... Über die Anderen werde ich nichts sagen, dass jemand von den Deutschen schlecht zu uns war, nein. Unter ihnen waren sogar wunderbare Menschen. Und nur die Wenigen störten das Bild. Das war die regierende Elite. Natürlich durchlief sie (Frau Elsa) die Vorbereitung irgendwo in Neuengamme oder sonst noch in einem anderen Lager. Man schickte sie hierher als Aufseherin. Sie ließ uns alle in einer Reihe aufstehen, schaute sich uns an, wer arbeiten kann und sagte: Kinder, die älter sind als 10 Jahre, arbeiten also an der Seite mit den Erwachsenen. – Sie war unsere rechtmäßige Eigentümerin. Ich war damals 11 Jahre und 2 Monate alt. Als ich antreten musste, wurde auch ich gefragt: Wie alt bist du? – Ich schwieg. Es war alles vielleicht auf Deutsch. Man wiederholte, ich konnte nichts verstehen, was man von mir wollte. Und dann kam mir die Mutter zur Hilfe: Er ist bereits 11 Jahre alt! – Später weinte sie bittere Tränen darüber: Warum habe ich das gesagt?! (er lacht) – dass ich 11 war. Weil die Kinder mit 11, sogar mit 10 Jahren, bereits an der Seite mit den Erwachsenen arbeiten mussten. Dann erklärte sie: Alle Erwachsenen – und ich also auch – werden in der Früh mit dem Sonnenau fgang, die genau Uhrzeit ist mir jetzt unbekannt, aufstehen und nach einem kurzen Schmaus... hm... – Was man da bekam, ist allen bekannt. Also, irgendeine Suppe, Tee, dann Steckrüben... hm... Ich erinnere ich an die Salate... hm... das ist... nur hier bekannt. Wir haben sie weder in Russland noch in Weißrussland, diese grünen Salate. Sie sind groß. Quasi Salate. So eine Art Salat. Das bekamen wir. Und dann das Brot. Ein Mischbrot, meiner Meinung nach, war es mit Holzspänen oder mit Kleie. Sehr kalorienarm, ungenießbar und... hm.. zu wenig. Selbst das, was wir bekamen, war zu wenig. Also, wir schluckten das aller herunter und ab zur Arbeit. Wir wurden aufgeteilt. Ich wurde als Helfer zugeteilt. Also... hm... zur allerlei Arbeiten. Es gab dort Erwachsene: die Unsrigen und die Deutschen, die in der Fabrik arbeiteten. Es gab aber wenige Deutsche dabei. Es waren mehr die Unsrigen und... und so wurde ich zusammen mit ihnen geschickt, zum Haushalts... auf den Hof, wo das Brennmaterial für die Ofen bereit gestellt wurde... wo... hm... hm... das Fisch gedörrt, getrocknet wurde, auch geräuchert. Dieses Feuerholz: man spaltete es, sägte es, zerkleinerte es. Wir reparierten auch die Kisten für die Konserven, weil dort Fischkonserven gemacht wurden, in dieser Fabrik, wo wir gearbeitet haben, man stellte dort Fischkonserven und allerlei Fisch her. Außerdem gab es dort auch andere Arbeiten. Das war unterschiedliche Arbeit. Den Hof fegen, selbst auf dem Dach aufräumen. Auf dem Dach gab es allerlei Müll und so was. Man ließ mich all diese unangenehmen Arbeiten durchlaufen, zusammen mit einem Erwachsenen, mit einem guten Mann, als Partner. Manchmal war die Gruppe größer. Man schickte uns zu allerlei Arbeiten. Also. Das ging so bis zur Befreiung. Also, die Arbeit war schwer. Ich war nicht gewöhnt, natürlich, in solch einem Alter, ich war 11 und 2 Monate alt. Bei der Befreiung war ist schon 12 Monate alt. Das heißt, 12 Jahre alt, als wir befreit wurden. Mit ein paar Monaten. Keine vollen 13 Jahre alt. In solch einem Alter an einer Seite mit Erwachsenen zu arbeiten – das war unmöglich. Diese Frau Else verlangte aber eine strikte Einhaltung. Und wenn wir von der Arbeit zurück kamen, berichtete sie uns, wie er sich benommen hatte. Nicht nur ich, sondern auch andere Jungen. Es gab dort solche Jungen: (…) Also, man brachte uns nach Hause und berichtete: Er (Jurij) lief dorthin weg, er machte dieses und jenes. – Sie bestrafte mich, diese Frau Elsa. Die beste Strafe war mit Peitsche auspeitschen, also, und dann Essen entziehen. Man wollte unbedingt etwas essen, hier legten sie noch einen darauf. Und dann noch die physische Gewalt. In Tränen aufgelöst natürlich kletterte ich auf meine 3. Etage. Dort auf die Pritsche. Meine Mutter weinte auch, bei meinem Anblick, sie weinte vor Mitleid. Was war ich für ein Arbeiter in solchem Alter?!

Über das Leben im Lager, wo sie sich selbst überlassen waren, erinnert Jurij: „All das, was mir die Mutter während der Bombenangriffe beibrachte, die Gebete, sie fielen mir alle danach nicht mehr ein. Ich kann mich nur an die ersten Worte erinnern und Schluss, mehr konnte ich mir nicht merken…. Das Einzige, worum sie bat, war, dass... wie gesagt, dass Gott uns helfen und uns begnadigen möge. Dass wir am Leben bleiben mögen, so. Das war bei uns wie ein Zauberspruch……

Wir gingen spazieren. Und hier also, in der Nähe... in der Nähe... hm... eine Ziegelei, ein Teil davon ist (bis heute) erhalten geblieben, dort waren wir also unterwegs, also. Und wir waren hier... dort trieben wir uns rum, wie gesagt. Was haben wir dabei gemacht? Also, wir gingen spazieren. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir dabei Verstecken gespielt haben oder Fangen. Wir hatten sonst keine Spiele. Es waren vielleicht, also... ich weiß nicht, vielleicht haben wir zum Beispiel Steine geworfen, vielleicht, wer am weitesten wirft. Vielleicht war da noch was. Und sonst, Spiele, dass... richtige Spiele hatten wir nicht. Fangen oder... oder irgendwelche Gorodki oder sonst noch so was, das hatten wir nicht. Wir hatten keine Turngeräte oder so was. Es gab dort, auf dem Hof, wie auf dem Schulhof, in U-Form: es waren dabei ein Reck und eine Leiter. Wir kletterten auf diese Leiter hinauf, auf dieses Reck. Wie gesagt. Das waren unsere Spiele. Ich erinnere mich noch, wie wir nach oben ein Brett legten, also... auf dieses... also... ein Tor oder wie kann man es nennen? Ein Tor! Also, dieses Turngerät aus drei Baumstämmen und mit einer Stange dazwischen. Also, wir legten... irgendwo haben wir ein Brett gefunden und legten es zwischen... hm... zwischen dieses Turngerät und das Barackendach. Als Kinder kletterten wir darüber. Das Brett wackelte. Solche Spiele hatten wir: wer den Mut hat, drüber zu laufen. Wer nicht herunter fällt und sich den Hals bricht. (er lacht). Solche Spiele hatten wir. Oder was noch, wir hatten noch was besseres: irgendwo unter der Pritsche verstecken und dort sitzen bleiben. Dort konnte ich mich mit meinem Bruder unterhalten. Niemand wusste, wohin du verschwunden warst. Du warst nicht da. Dabei warst du da unten. Also. Wir hatten dort eine Ecke, wo wir hinausgehen konnten, an die frische Luft. Und wenn die Flugzeuge angeflogen kamen, warteten wir dort die Möglichkeit ab, um zu schauen, in welche Richtung sie unterwegs waren, wie sie bombardierten, wie sie unter Beschuss standen, was das für Flugzeuge waren. Wir konnten schon vom Geräusch her erkennen, in welche Richtung... sie flogen. Ob sie noch Bomben an Bord hatten oder schon leer waren, ob sie Berlin gerade bombardiert hatten und nun nach England zurückkehrten, als Beispiel. Oder flogen sie nun mit Bomben und würden ein paar auf uns abwerfen und dann weiterfliegen. Solche Augenblicke blieben mir im Gedächtnis. Und dass wir dort Unterricht hatten, das... Anscheinend war es diese Umgebung, die mich fürs Lernen... hm... fürs Lernen und all das unempfänglich gemacht hatte. Ich... ich habe schon gesagt, dass ich mir nichts merken konnte. Lesen und Schreiben lernte ich erst nach dem Krieg, 1945-1946. Als der Krieg zu Ende war und wir in die Heimat zurückkehrten, erst dann begann ich aktiv all das... Wir hatten Bücher! Dort hatten wir ja keine Bücher. Ich hatte da nichts. Ich kann mich nicht erinnern, einen Bleistift oder einen Schreiber in der Hand gehalten zu haben. Ich hatte nichts. Deswegen war ich... Und dann kam es dazu... meine... mit meinem Studium ging mit einer großen Verzögerung los. Weit hinter meinen Altersgenossen….

der Krieg brachte mir bei, immer auf der Hut zu sein und sich nicht an jemanden zu wenden, wenn ich irgendwelche Fragen hatte oder irgendwelche Ansprüche erheben wollte. Wie gesagt, dort war alles in Abteilen aufgeteilt: hier standen unsere Pritschen, hier von jemand anders, andere Pritschen. Fertig. Wir hatten ja keine Kontakte zu den Erwachsenen. Ich erinnere mich daran nicht.“

2 Kinder von Zwangsarbeiterinnen wurden in der Frauenklinik Finkenau geboren.

4 Schwangerschaftsunterbrechungen wurden bei Zwangsarbeiterinnen in der Frauenklinik Finkenau vorgenommen.

1 Kind verstarb im Kinderkrankenhaus „Kastanienhof“ der Freien-evang.-luther. Bekenntniskirche St. Anschar in der Tarpen beckstraße 107.

Text: Margot Löhr

Quellen:
StaH 221-11 Entnazifizierungsakten, Fa 8397 Johannes Heins; StaH 322-3 Gutschow Pläne, B 92 W Nr. 575 H II-121 Brüderstraße 58; www.zwangsarbeit-in-hamburg.de, eingesehen 17.2.2016; Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Interview mit den Brüdern Jurij Gurin, und Nikolaij Gurin, geführt von Philipp Oelze am 21.3.2002 in Hamburg, Transkrition und Übersetzung Barbara Lentner (März 2014).
StaH 332-5 Standesämter, Geburtsregister 13790 u. 976/1902 Johannes Heins; Standesamt Brunsbüttel, Sterberegister Nr. 223/1986 Johannes Heins;
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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